Festival: 11. Art Rock Festival 2023, Teil 2 – Reichenbach, Vogtland (DE)

Veröffentlicht am 9. Mai 2025 um 14:18

Der Samstag beginnt mit einer Premiere – Weltpremiere im Grunde. Fünf Musiker erwecken die Bühne das erste Mal zum Leben. Für die Neubrandenburger ist es ihr erstes Konzert unter dem Namen Dawnation, obwohl ihre Gründung schon einige Jahre zurückliegt. 1998 hießen sie noch Glistening Dawn...

11. Art Rock Festival 2023 – Samstag, 15. April 2023

Sie spielten Coversongs, entwickelten dann eigene Ideen, trennten sich und fanden 2017 wieder zusammen. Ein Jahr später dann der neue Name: Dawnation. Fünf Jahre in der Zukunft und eine Pandemie ohne Auftrittsmöglichkeiten später, haben sie nun schon zwei Alben im Gepäck. Die Freude endlich auf einer Bühne vor Publikum zu stehen ist der Band direkt anzusehen. Die Spielfreude tropft ihnen fast aus den Fingern. Dabei zeigen sie in ihrer neun Songs starken Setlist eine große stilistische Vielfalt. Ja, es ist Prog-Rock aber mit Ausflügen in klassischen und harten Rock, Alternative, sowie eingängigeren Pop. Was hier erstmal diffus klingt, weben Dawnation harmonisch ineinander und fesseln die Frühaufsteher. Grade Sänger Jan Mecklenburg weiß dabei mit stimmungsvoller Bühnen-Gestik das Publikum emotional abzuholen. Nervosität lässt sich niemand anmerken. Die Lead-Melodien aus den sechs Saiten von Christoph Piel fliegen zusammen mit den Synths von Bert Wenndorff über das Fundament aus Damian Krebs Schlagzeug und den Basslines von Robert Reich. Jeder bekommt seine Momente. „Holes“ oder „Fly“ vom brandaktuellen Album „...Well For The Past“ sind hier Anspieltipps für alle, die sich einmal hineinfühlen wollen. Schon bevor das Ende verkündet wird, tönt es „Zugabe“ aus dem Publikum, dass schon ein ganzes Stück näher an die Bühne gerückt ist. Positiv fällt auch der Sound auf, der anders als am Vortag, transparent und nicht zu erdrückend aus der Anlage schallt. Eine Premiere am Rande: Dawnation haben den ersten echten Gitarrenverstärker des Festivals auf der Bühne, während am Vortag eher auf digitales Modeling vertraut wurde. Der Durchsetzungsfähigkeit hilft das grade vorne doch merkbar. Mit der Zugabe „Fall“ entlässt die Band ein mehr als positiv überraschtes Publikum zurück in den Tag. Die große Pilgerreise zum Merchandise beginnt.

Overhead – Wer sich anschließend mit neuen Alben eingedeckt hat, kommt grade pünktlich zum nächsten Act: Overhead. Die fünf Finnen musizieren schon seit über 20 Jahren und sind nicht zum ersten Mal hier. Bei ihrem letzten Besuch des Artrock Festivals stand der Verstärker von Gitarrist Jaakki Kettunen in Flammen. Treiben sie es auch heute wieder auf die Spitze? Im Gedächtnis bleiben werden sicher schon einmal die bunten Shirts und Tücher als Bühnendekoration. Mit dabei haben sie ihr neues Doppelalbum „Telepathic Minds“, samt des 17-Minütigen Titeltracks. Ihre Songs sind vielschichtig und geraten in den meisten Fällen entsprechend lang. Dabei bleiben sie dem Progrock treu, oldschool aber dennoch mit Wiedererkennungswert. Nicht zuletzt durch die Querflöten-Einlagen von Sänger Alex Keskitalo und seiner theatralischen Darbietung. Kettunen und er sind die Showmen der Gruppe mit großer Bühnenpräsenz. Das bleibt vom Publikum nicht unbemerkt, welches sich den Act nicht entgehen lassen will und schon wieder vollzählig in der Halle versammelt ist. Neben den harten Riffs gibt es immer wieder ruhige Momente und einen röhrenden Vintage-Orgelsound durch den neuen Keyboarder Tommy Eriksson. Auch Drummer Ville Sjöblom trägt zusammen mit Janne Katalkin am Bass zu den treibenden Momenten der Gruppe bei. Immer wieder holen sie musikalisch weit aus und führen alles dann wieder hymnisch zusammen, garniert mit melodischen High-Gain Gitarren-Soli. Sie lieben die großen Momente. Bevor es zur Zugabe kommt, ergreift Veranstalter Uwe Treitinger das Wort und entschuldigt sich für den Sound am Vortag. Zu laut war es und das könne auch dem besten Mischer nach einem langen Tag mal passieren. Bleibt zu hoffen, dass das klangliche Niveau vom Tagesanfang gehalten werden kann. Nun aber: die Zugabe! Mit „Dawn“ feuern Overhead nochmal die volle Bandbreite durch die Boxen.

Blank Manuskript – Mittlerweile ist es später Nachmittag. Energie wird am Getränkestand und am Grill bei Rauchwurst und Steak wieder aufgetankt. Lecker… aber vielleicht wäre etwas mehr Abwechslung auf eine Dauer von drei Festivaltagen mal etwas zeitgemäßer. Thema Abwechslung: Blank Manuskript. Was hier auf den Teller kommt ist explosiv, überraschend und glitzert. Mit ordentlich Lametta und Pailletten ausgestattet entführen die (wieder mal) fünf Musiker in ihre eigene Klangwelt.  Zappaesk fliegt die Musik durch den Saal, verändert sich sprunghaft. Doch dann finden sie melodisch wieder zusammen, erinnern dabei gar an Pink Floyd in Solo- wie Gesangspassagen. Gewollter klanglicher Nonsense wird immer wieder zu einer Harmonie oder einem psychedelischen Jam. Ein Break im Reggae-Style beweist: Nichts und Niemand ist sicher. Auch die Instrumente der Österreicher sind divers. Hier finden sich verschiedene Flöten, ein Gong und vor allem das gefühlvoll gespielte Saxophon von Jakob Widerin. Den Gesang teilen sie sich untereinander auf. Bassist Alfons Wohlmuth wechselt zwischen elektrischem und Upright-Bass. Besonders das zweigeteilte Stück „After The War“ überzeugt mit Melodien und gefühlvollem Solo von Peter Baxrainer. Dominik Wallner an den Keys hängt sich im Laufe der Show seine Keytar um und treibt so in vorderster Reihe mit den anderen die Stimmung in der Halle an. Zusammen springen sie musikalische Haken und enden auch mal im Jazz oder dank Blockflöte in einer gewissen orientalischen Note. Die Salzburger sind wirklich das unbeschriebene Blatt, nachdem sie sich benannt haben. Neun Stücke packen sie in ihren 75 Minuten langen Slot. Ein Blick in ihre Welt findet sich, abseits ihrer vier Studioalben, etwa auf ihrer eigens vermarkteten Live-Platte „A Live Document“. Die gut gemischten Stücke darauf sind unter anderem beim Night Of The Prog sowie Woodstock Forever 2022 entstanden. Antesten, wenn es mal wieder etwas Neues sein darf. Gewiss die experimentellste Gruppe bisher, auch wenn an diesem Punkt erstmal die Halbzeit des Festivals erreicht ist.

Atomic Rooster – Wer sich von dem bisherigen Line-Up und seiner stilistischen Abwechslung schon etwas überfordert fühlt, darf jetzt die Ohren offenhalten. Es gibt Rock. Classic Rock. Für Veranstalter Uwe sind sie DIE Headliner. Atomic Rooster haben als britische Urgesteine des Genres schon mehrere Mitglieder verschlissen. Einst gegründet wurden sie von Keyboarder Vincent Crane und Carl Palmer als diese die Crazy World of Arthur Brown 1969 verließen. Die heute auf der Bühne stehenden Pete French und Steve Bolton an Gesang und Gitarre stießen ein paar Jahre später dazu. Zwei Auflösungen der Band später und nach dem Tod von Gründer Crane, erlaubte dessen Witwe den verbliebenden Musikern ein Fortbestehen der Band. Heute spielt die Band mit der Unterstützung von Shug Millidge am Bass, Paul Everett an den Drums und Ross Munro an den Tasten. Letzterer sprang dabei für den eigentlichen Keyboarder Adrian Gautrey ein. Die jungen Musiker liefern ein solides Fundament für die mehr als doppelt so alten Ur-Rocker. Besonders die Orgel-Einlagen sind hervorragend gespielt, sofern sie Gehör finden. Wer in näherer Reichweite von Boltons Marshall-Verstärker steht, hat keine einfache Zeit über den sechssaitigen Horizont hinauszuhören. Der Techniker zeigt mehrfach vom Bühnenrand an, dass er mit weniger Volumen sehr glücklich wäre. Ein eher symbolisches Einlenken Boltons um geschätzte 1mm des Volume-Potis nach links, verändert entsprechend wenig. Oldschool eben. Sein Gitarrenspiel ist dabei teils schludrig und rotzig wie Jimmy Page im positiven Sinne. Der Gesang geht im Bandgefüge leider ein wenig unter und French muss eher um seine Position im Mix kämpfen. Mit „Breakthrough“ endet das Set der Engländer erstmal würdig. In den ersten Reihen finden sich andere Gesichter als normalerweise. Die üblichen Verdächtigen scheinen weiter hinten oder außen auf Mystery zu warten, was den Kreis an Zuschauern in der Halle leider etwas klein wirken lässt. Eine Zugabe fordern sie trotzdem, auch wenn das Licht schon hochgedimmt wird. Bolton betritt dann doch die Bühne, kommt ins Gespräch mit einem Fan, dann gibt es leider doch keine Zeit mehr für eine Zugabe. Kurze Verwirrung auf den letzten Metern.

Mystery – Sind die Gäste nun alle verschollen? Nein, zu Mystery geht es wieder in großen Zahlen ins Geschehen. Dabei sind die Kanadier mittlerweile schon Stammgäste des Artrock Festivals. Man kennt sich. Die Truppe rund um Multitalent Michel St-Père gibt es schon seit 1986, auch wenn sie noch vier Jahre brauchen sollte bis das Line-Up sicher auf den Beinen stand. Bis zu ihrer heutigen Bekanntheit auch außerhalb Kanadas war es ein langer Weg. Außer dem Mastermind St-Père wurden dabei alle Positionen bereits ausgetauscht. Die Fangemeinde in Reichenbach begrüßen sie direkt mit ihrem brandneuen Album „Redemption. Sänger Jean Pageau führt als gewohnt grandioser Showman routiniert durch das große Portfolio der Truppe. Voller Körpereinsatz und Verkleidungen inklusive. Nur Probleme im In-Ear-Kopfhörer lassen sich erst im Mittelteil des Sets lösen. Zweimal wandert Pageau in Richtung der Techniker. Wundervoll komponierte Stücke wie das sieben minütige „Where Dreams Come Alive“ zeigen die Stärken der Band. Ruhige Intros mit akustischem Gitarrensound gefolgt von treibenden und knarzenden Basslines sowie Gesangsmelodien, die alles unter einem Hut vereinen. Besonders St-Pères satte Soli, die sich immer wieder mit den Keys von Antoine Michaud abwechseln, setzen dem Ganzen die Krone auf. Auch Pageaus Flötenspiel ist immer wieder eine besondere Note. Drei Bands mit Flöten an einem Tag? Vielleicht auch das schon ein Rekord. Mystery sind melodischer Prog der höchsten Stufe, den einige Fans nun gar textsicher mitsingen. Die neuen Songs kommen hier gut an, auch wenn die Halle trotzdem ein wenig leerer erscheint als noch vor einigen Jahren. Auch wenn die Band mittlerweile routinierter wirkt, zeigt Sie grade gegen Ende doch große Hingabe und ihre Publikumsnähe. Soweit, dass Zweitgitarrist Sylvain Moineau den Fans seine Gitarre für die letzten Töne vor die Hände hält und schrammeln lässt. Die Menge ist wieder einmal begeistert von ihren Helden und Teile von ihnen verlassen bereits beseelt das Gelände. Ein Fehler, wie sich gleich noch zeigen wird.

Gabriel Agudo – Die Reise geht nach Argentinien. Gabriel Agudo produziert, schreibt Songs, musiziert und singt. Wer das Multitalent nicht durch seine Solowerke kennt, könnte ihn als Leadsänger der Steve Rothery Band schon mal erlebt haben. 2020 brachte er eigenes Material unter dem Albumtitel „New Life“ heraus. Alleine auf der Bühne wird das natürlich schwierig, daher wurde eine illustre Gruppe an Profis ins Boot geholt. Der Mann an den Tasten, Bill Hubauer, ist für seine Arbeit mit der Neil Morse Band bekannt. Gitarrist Fernando Perdomo teilte die Bühne bereits mit Neil Young und Eric Clapton. Agudo begrüßt schon beim Aufbau die erste Reihe per Handschlag. Mittlerweile stehen 45 Minuten Verspätung auf der Uhr. Aufgrund diverser technischer Aspekte macht der Spielplan somit schon der deutschen Bahn Konkurrenz. Als es dann endlich losgeht, sind viele schon in ihre Betten gewandert. Perdomo an der Gitarre und Drummer Jimmy Pallagrosi hingegen sind hellwach und treiben furios durchs Set. Zu hören gibt es Agudos Kompositionen aber mit „Down and Out“ auch ein Genesis Cover. Angesiedelt ist das alles zwischen melodisch fließenden Sphären und abgehacktem Zick Zack. Funky Jazz Einflüsse gibt es gratis dazu. Prog-Rock der spannenden Art. Fernando Perdomo scheint in seinem ganz eigenen Universum zu sein. Neben und hinter seinem Amp steht Pappdeko in Form eines Gitarrenhalses und eines Hahns. Soweit so logisch? Er hüpft umher, wirft seine Gitarre auf den Boden, zieht sie am Tremolo-Arm wieder rauf, versunken in seiner Performance. Erstmal Luft holen im kleinen Akustik Set, gespielt im Sitzen. Das melancholische „Free As A Bird“ widmete Agudo seiner verstorbenen Mutter. Anschließend gibt Drummer Pallagrosi ein Solo zum Besten, das in der Simulation eines Motorrads per Bassdrum endet. Mit symbolischem „Gas geben“ per Drumstick. Wie sollte es anders sein. Noch ist die humoristische Truppe nicht am Ende. „Endless Night“ heißt das Finale. Perdomo greift nach dem riesigen Pappschild hinter ihm, versteckt sich dahinter, hält die Gitarre davor, geht zu Boden, spielt weiter, zieht den Stecker, Ende? Noch nicht. Erst als er mithilfe des Steckers einen Herzstillstand per Rückkopplung simuliert endet dieses wilde Abenteuer. Gabriel Agudo oder auch: „Die Fernando Perdomo Show“. So oder so eine weitere sympathische Überraschung eines starken Festivaltages.hier, um einen Text zu schreiben. Texte Samstag: Marvin Brauer

Foto-Galerie – Samstag, 15. April 2023

11. Art Rock Festival 2023 – Sonntag, 16. April 2023

Erfahrungsgemäß stellt sich bei längeren, mehrtägigen Festivals nach dem traditionell sehr anstrengenden mittleren Festivaltag, diesmal hier 2023 im Vogtland wieder traditionell Besucherfreundlich und sechs Bands mit Vollprogramm, bei einigen Besuchern, ich sage es mal etwas vorsichtig, eine gewisse altersbedingte Sättigung ein. Inzwischen haben insgesamt zehn Rock-Kapellen ihre unterschiedlichsten üppigen Musik-Programme stolz präsentiert. Christa und ich hatten am Vortag wieder sehr schöne persönliche Momente, beispielsweise mit den fünf Finnen von Overhead, auch die wunderbaren Österreicher von Blank Manuskript aus dem Salzburger Land erfreuten uns sehr. Und mit Mystery aus Kanada hatten wie ebenfalls wieder einmal unsere Freude. Die Kanadier haben besonders hier in Reichenbach aufgrund ihrer europäischen Geschichte ein sehr treues Stamm-Publikum. Der Festival-Sonntag begann in den letzten Jahren immer wieder mit etwas ruhigerem Programm. Darauf hatten auch einige Besucher wieder gesetzt, sich beim späten Frühstücken viel Zeit gelassen, trafen deshalb nur Tröpfchenweise und Zeitknapp im Neuberinhaus ein. Ein großer Fehler, da konnte heute schnell eine echte überraschende Wundertüte verpasst werden.

Denn wer zu spät kommt, den bestraft der Böse Wolf. Das ist auch ein Pseudonym vom Frontmann und Denkfabrik Marcus Heider, alias John Krempl. Mit der vom Brit-Pop beeinflussten Band The Trainleaders veröffentlicht Marcus/John in den Jahren 1996 bis 2003 drei Alben. Dann gründete dieser Umtriebige 1997 nach intensiver Lektüre von Geisterjäger John Sinclair (deutschsprachige Serie von Grusel-Heftromanen) mit drei bekannten Protagonisten der Grazer Rockszene auch noch die Alternative-Rock-Band Spuk. Mit ihnen entstehen auch zwei Alben und bis Ende 2012 ist dann nach Besetzungswechseln die Metamorphose zum Nachfolger Love God Chaos abgeschlossen. Nun steht der Pirat aus Graz, er trat wegen Augenproblemen mit einer Augenklappe auf, mit den beiden Kollegen aus der Frühzeit, Gitarrist Markus Kertz und Bassist Michael Mautner, sowie neuen Schlagzeuger Felix Kappler, zum musikalischen Frühschoppen auf der Bühne. Und wer dachte, hier spielt eine österreichische Kaffeehaus-Band, der hat auf das falsche Frühstücksprogramm gesetzt. Auch wenn kaum einer die Grazer jemals vorher in dieser Gegend gehört und gesehen hat, bewegen sich lautstärkebedingt immer mehr der frühen Motten Richtung der bunten Lichtkegel in der abgedunkelten Halle. Passend dazu, startet das Steiermark-Quartett mit dem 11-minütigen Eingangsmonster Ich Komme Von Der Sonne vom aktuellen Album Wir Leuchten Im Dunkeln (2022), eröffnen damit ihren sehr starken deutschsprachigen Auftritt. Ich kenne viele faszinierende Bands aus der aktuellen Szene der Alpen-Republik, aber auch ich hatte trotz meines Steckenpferdes bisher keine Kenntnis von den Grazer Perlen. Ebenso wie Talent-Scout Uwe Treitinger. Der war aber nach kurzer Hörprobe genauso wie ich von der Ausnahmestellung dieser Mucke überzeugt und hat sie sofort nach Reichenbach eingeladen. Und schon mit den ersten Liedern, zeigt das Quartett auch den Besuchern, was für eine wunderbare Kapelle hier aufspielt. Mittig Johnny K mit schwarzer Augenklappe, ein stattlicher, imposanter schwarz gekleideter Barde, der seine eigene Lyrik mit großen Gesten vorträgt und die Menschen mit Blicken und Prosa einfängt, gar fesselt. Hier sieht man, ähnlich auch bei dem Festival abschließenden Kanadiern Red Sand, wie wenig notwendig ist um Faszination und Sogwirkung zu erzeugen. Dafür braucht es nicht 20 Köpfe auf und neben der Bühne um dann einen gefühlt leidenschaftslosen Auftritt abzuwickeln. Ganz anders, die Jungs aus der Steiermark, hier ist Leidenschaft zu sehen und vor allem zu spüren. Leider kamen viele Zuhörer etwas zu spät und haben dadurch wirklich nee Menge verpasst. Auf jeden Fall hätte dieser total abwechslungsreiche Vortrag mehr Zuschauer verdient gehabt. Es wäre deshalb wünschenswert, sie bald wieder auf deutschen Bühnen zu sehen, dann vielleicht auch mit dem neuen Material von Augendisko was gerade in der Mache ist. Musikalische Schubladen sind kein Thema von Love God Chaos, überzeugt euch vorab auf den vier wirklich sehr schönen rockigen Alben dieser Musiker. Schwerpunkt waren beim heutigen Auftritt die letzten beiden Alben Endling (2019) und Wir Leuchten Im Dunkeln zu je einen Drittel. Aber mit Mach Dein Voodoo war auch ein Neuer dabei. Johnny: „Ja, das ist einer der neuen Songs für das kommende fünfte Album. Wir wollten einfach mal die Gunst der Stunde nützen und einen Schritt weitergehen“. Sehr brav und äußerst mutig !! Nicht nur mich, das habe ich inzwischen erfahren, haben diese vier Musiker aus Graz regelrecht umgehauen. AHOI, wie Johnny gerne sagt!!

Aus dem vielköpfigen Friedberger Projekt Analysis wird Mitte 1988 das Trio Emerald Lies, bestehend aus Gitarrist Thomas Küchenmeister (ThomK) singenden Schlagzeuger Claus Dieter Weber (Cede) und Bassist Chris Cantow. Der Song Emerald Lies von Marillion (1984: Fugazi) ist hier Namensgeber. Bereits 1990 ersetzte Jörg Karl (JoK), schon Mitstreiter bei Analaysis, den ausscheidenden Cantow in dem Trio. Nach einigen weiteren Besetzungswechseln trennte man sich 1992 und fand nach 17 Jahren wieder dann doch erneut zusammen. Und wie, denn was auf viele teure Weine zutrifft, das gilt auch bei manchen Bands. Die Qualität steigt durch Fachkunde mit zunehmenden Alter. Sofort hat die Chemie bei den drei hessischen Gründern wieder gestimmt und diesmal haben sie nicht die Fehler wie in den Anfangsjahren gemacht. Seither musiziert Emerald Lies stabil und mit Different View Part I – Life On Earth? (2012), Different View Part II – Green Turns Blue (2014), der Vinyl-Kompilation Hindsight (2020) und einem Live-Special ist anspruchsvolle und beachtete Musik veröffentlicht worden. Und aus allen vier Alben wurde kraftstrotzendes Material hier in Reichenbach auf der Rock-Musik-Messe Vogtland phänomenal präsentiert. Einzelne Songs aus dieser homogenen musikalischen Reise auf den Spuren der klassischen Rocker der 70er herauszuheben, fällt mir etwas schwer, da vom ersten Ton an, ein kraftvoller harter Rock im Stil der klassischen Trios der 70er aus Boxen den Besuchern quasi entgegenspringt. Der zusätzliche Gitarrist Burkhard Koch und der teils dreistimmige Gesang bringen dabei noch mehr Volumen und Vokal-Facetten ins Spiel. Natürlich gibt die zentrale Frontstimme von Cede, der auch passenderweise für die Lyrik zuständig ist, oben in der Trommelburg die Richtung singend vor. Früher war die prägende Stimme aus dem Bereich des Schlagzeugs etwas Ungewöhnliches. Ich erinnere hier immer gerne an Bernd "Nossi" Noske von Birth Control, der bis zu seinem ungeklärten Tod 2014 die Doppelrolle mit seiner prägnanten Stimme souverän ausfüllte. Erwähnen möchte ich an dieser Stelle auch noch an den großartigen Auftritt letztes Jahr von Birth Control auf gleicher Bühne, aber ohne diesen singenden Schlagzeuger. Vergleiche zu den damaligen Helden sind aber auch hier unangemessen, da Emerald Lies Ihren eigenen Stil anspruchsvollen Hart-Rock unaufgeregt und zeitgemäß zelebrieren. Mit ihrem ebenso wunderbaren Vortrag knüpfen sie nahtlos an die erste Band des Tages Love God Chaos aus dem österreichischen Graz an. Bei solchen wunderbaren kraftstrotzenden Bands, wie beispielsweise auch bei den Münchenern The Ancestry Program, habe ich keine Sorgen das die bei Kontinuität im Gefüge uns weiter mit schöner Musik, Livehaftig oder aus der Konserve beglücken werden. Macht so weiter, damit wir wieder rufen können: Erbarmen, die Hessen kommen !!

Auch bei der dritten Band des Tages gab es Probleme mit der Technik. Dass die von einigen runtergespielt werden sollten ist nachvollziehbar aber ändert nichts an erlebten Tatsachen. Aller lieber zu erfreulichen Themen, nämlich der nächsten Band FLEMT, wieder einmal wie fast jedes Jahr hier in Reichenbach eine recht unbekannte Perle aus Italien. Ich stehe nicht so auf künstlich zusammen gewürfelte Truppen, mir machen solche alte Kameradschaften wie die Hessen Emerald Lies und die Grazer Love God Chaos viel mehr Freude. Das ändert auch nicht, wie ich irgendwo gelesen habe, dass FLEMT bereits vor über 10 Jahren als Support von Bon Jovi vor 40.000 Zuschauern gespielt haben und in Italien deshalb eine recht bekannte Band sind. Lord Of The Lost ist auch eine sehr bekannte, erstklassige Band, konnten aber die Popper beim ESC leider auch nicht für sich gewinnen. Sehr, sehr schade !! Die Gründungsmitglieder Alessandro "Frank" Lapini (Bass) und Michele Trillini (Gitarre, Gesang) sind seit ihrer Kindheit befreundet und spielten in ihren Teenager- und Zwanzigerjahren gemeinsam, aber auch getrennt in verschiedenen italienischen Bands. Sie kamen 2011 wieder mal zusammen und gründeten FLEMT, arbeiteten monatelang hart an ihrem Material das dann zum Debüt The Time Has Come (2011) wurde. Damit gewannen sie einen Wettbewerb und eröffneten dadurch für Bon Jovi im Udine Station. Der Solokünstler Patrik Pambianco kam erst 2017 als Frontsänger zur Band, musste aber später aus gesundheitlichen Gründen die Band verlassen. Deshalb war neue Leadsänger Riccardo Curzi hier ins Neuberinhaus angereist. Schlagzeuger Archelao Macrilló kennt man hier bereits von einem halben Dutzend Festival-Auftritten, man hat das Gefühl er ist hier bei jeder zweiten Band aus Italien mit auf der Bühne. Egal; Hauptsache es kracht ordentlich Bereich Trommeln und der Rhythmus passt gut zum anstehenden Programm. FLEMT tourt derzeit in Europa mit Rowan Robertson, Ex-Gitarrist der Band Ronnie James Dio, den wir letztes Jahr auch schon in Kombination mit einem Ronnie-Doppelgänger bewundern durften. Und damit war die Marschrichtung diesmal klar vorgegeben, rockig-poppige Musik mit Titel aus dem einzigen Album von 2011 und einen schrill schreienden jungen Debütanten am Mikro. Er hatte seine Stärken bei den wenigen ruhigeren Liedern. Das spanneste war meines Erachtens die allgemeinen Mutmaßungen über den Band-Namen, wurde offensichtlich nicht gelüftet, bleibt wohl ein Geheimnis.

Die Musik der deutschen Vorzeigeband RPWL ist in Sachen Komposition, Musikalität und handwerklicher Ausführung nach über 25 Jahren natürlich über jeden Zweifel erhaben. Die Freisinger kommen auf ihrer aktuellen Tour standesgemäß mit imposanten schwarzen Nightliner, kompletter Technik und vielköpfiger Mannschaft, sind vorletzte Band und somit auch das laut Startplatz Highlight des Festivals. Die Frage die sich mir aber bei dieser bekannten Festival-Band und eben auch schon Dauergast hier im Neuberinhaus stellt, musste das nun so schnell hintereinander wieder beim Art-Rock-Festival sein. Sicher ist das brandneue Album Crime Scene (2023) erneut wie zu erwarten ein gelungenes Werk dieser ausgewöhnlichen Musik-Fachleute. Die sechs Songs mit Themen zu wahren Kriminalfällen werden in schönen speziellen Live-Versionen allesamt komplett hintereinander gespielt. Darüber hinaus gibt es natürlich wie von den Fans gewünscht die erwarteten Band-Klassiker. Da RPWL ihr eigenes Licht- und Ton-Personal mitbringen, sind die Technik-Defizite der beiden Vortage hier nicht ganz so gravierend. Aber auch hier war der Auftritt nicht so optimal wie letztes Jahr, mit erstklassigen Licht und Klang-Landschaften. Der Chef-Techniker verriet mir, dass etwas die Zeit fehlte es noch etwas besser hinzubekommen. Die beiden Sängerinnen Carmen Tannich-Wallner und Caroline von Brünken, wieder zentral im Hintergrund, waren erfreulich diesmal etwas mehr in das Musik-Programm eingebunden. Aber noch trauen sich die beiden Frontmänner Yogi Lang und Kalle Wallner noch nicht zu, auch mal einer weiblichen Solostimme eine Chance zu geben. Die Kompositionen haben sie dafür, auf Themen für einen dualen Vortrag. Der Gast an den Keyboards Butsch Biechele fügte sich nahtlos in das System RPWL ein, die nun etablierten Marc Turiaux in der Schießbude und Markus Grützner am Vier-Saiter sind im Gefüge nun komplett assimiliert. Wie bereits schon anfangs verraten, hatte ja auch Multi-Instrumentalist Thomas Burlefinger von TAP aus München eine Anfrage für die Keyboards auf dieser Tour. Ich habe schon mehrere Dutzend Konzerte von RPWL genießen dürfen, bin immer wieder von der Perfektion ihrer Auftritte und Programme begeistert. Obwohl Lokalpatriot, geht dennoch mein Festival-Sieg diesmal nach Kanada, gleichberechtigt an Mystery und Red Sand.

Der erhabene Tagessieger war; als Quartett Steff Dorval (Gesang, Schauspiel), Simon Caron (Gitarre, Bass Keyboards), Perry Angelillo (Schlagzeug) und Live-Basser André Godbout angereist; die 2004 gegründete kanadische Neo-Prog-Institution Red Sand aus der Welterbe-Stadt Québec. Ihren Live-Keyboarder Jean Benoit Lemire mussten sie leider aus Termingründen Zuhause lassen. Dafür hatten sie eigene Technikunterstützung dabei, konnten somit seine wichtigen Keyboardteile einspielen und damit waren auch die Unstabilitäten bei Ton und Licht einigermaßen unter Kontrolle. Die Franco-Kanadier legten nach 2017 und 2019 zum dritten Mal kurz hintereinander im Neuberinhaus auch als Doppel-Zweier wieder einen fulminanten Auftritt hin. Gleich mit dem atmosphärischen, instrumentalen Reichenbach verbeugen sich die Kanadier vor der treuen Rock-Gemeinde, vor den wunderbaren Menschen hier in Reichenbach im Vogtland und auch vor dem Veranstalter, der ein großes Herz für die italienischen und kanadischen Rocker hat. Danach kam der erste Teil vom dreiteiligen Namensgebenden The Sound Of Seventh Bell des immer noch aktuellen Albums (2021), der mit Glockenschlägen eröffnet wurde und zu dem auch Steff nun die Bühne betrat. Schon jetzt hatten die vier versierten Musiker das gesamte Publikum in ihrem Bann, für einige inzwischen der vierte Tag und unglaubliche 16 Formation, und trotz später Stunde wurden immer noch viele Feierbiester wie von starken unsichtbaren Kräften unaufhaltsam an die Bühne gezogen und dort regelrecht festgehalten. Besonders die druckvoll und präzise präsentierte Musik, aber auch die besondere Art des Vortrags hat auch mich bei dieser Gruppe immer wieder fasziniert. Einen großen Anteil hat hier auch der extrovertierte Sänger Steff Dorval, der zunächst in Straßen-Kleidung die Bühne betrat, im Verlauf der Darbietung dann in verschiedene Rollen schlüpfte. Das machte er mit passenden Kostümen, skurrilen Masken, kleine Accessoires, Gesten, Schauspiel und einfühlsamer Vokal-Akrobatik. All das unterstrich mächtig die schönen, einfühlsamen, langen Kompositionen audiovisuell. Bei so einem eigenständigen und besonderen Vortrag verbieten sich meiner Meinung nach Vergleiche zu anderen Genre-Helden. Mit den jeweils beiden längsten Stücken von Crush The Seed (2020) und FoRsAkEn (2019) geht es episch sowie energiegeladen eine Stunde lang weiter im Programm. Und wer den Texten Gehör schenkt, der wird von einem weiteren Attribut dieser Band überrascht. Sie sind wahre Geschichtenerzähler, schrecken mit freier Rede vor keinem noch so brisanten Thema zurück. Seit dem FoRsAkEn Album verfasst auch Tochter Barbara Caron reife, einnehmende Texte, die der Band noch mehr Strahkraft verleihen. Ein großer Strauß mit acht gleichschönen, atmosphärischen Liedern zum musikalischen Ende des elften Art-Rock-Festival, eindrucksvoller, sicher kann man hier sicher sagen, krönender kann ein Abschluss nicht sein. Er mündete in einem Begeisterungsturm des Publikums und es wurde im Foyer bis in den frühen Morgen weitergefeiert. Vielleicht wird Red Sand im Herbst erneut hier im deutschsprachigen Raum zu sehen sein, lasst Euch das dann nicht entgehen!

Foto-Galerie – Sonntag, 16. April 2023

Was gibt es diesmal noch zu Resümieren. Trotz vieler unbekannter Namen hat der Veranstalter wieder ein sehr gutes Näschen für musikalische Qualität gehabt. Ich hätte für das kanadische Doppel Mystery und Red Sand sowie die beiden Wundertüten aus dem Salzburger Land (Blank Manuskript) und der Steiermark (Love God Chaos) sofort Twelve Points vergeben. Ebenso haben mich die älteren Herren der Münchener The Ancestry Program und der Friedberger Emerald Lies mit ihrem komplexen aber druckvollen Art-Rock umgehauen. Und alle vier Bands aus dem deutschsprachigen Raum sind bisher recht unbekannt, haben aber unaufgeregt, mutig und voller Stolz ihr Material dargeboten, zum Teil sogar noch unveröffentlichtes (es wird hier im Music-Info-Net Werkschauen zu diesen Bands geben). Also sollten wir hier in Mitteleuropa hoffnungsvoll sein bei so einer Breite von guten Musikern die richtige Lust & Laune haben uns mit besonderer Musik zu verwöhnen. Trotz des sehr breiten, wertigen Programm und ohne Pandemie-Beschränkungen, stagnieren leider die Besucherzahlen. Wer meint das liegt an zu wenig großen Namen, der täuscht sich. Wir hatten beim diesjährigen elften Art-Rock-Festival im Neuberinhaus und im Bergkeller insgesamt SECHSZEHN große Namen, die eine unfassbare Breite an Stilen und Klangfarben, wie auch Qualität und Spielfreude auf die staubigen Bretter der Bühnen mitgebracht haben. Hoffen wir das der Veranstalter Uwe Treitinger und auch die vielen unermüdlichen Helfer 2024 wieder die Kraft aufbringen, uns wieder so eine würdige und international besetzte Rock-Musik-Tagung in der vogtländischen Kathedrale des Prog zu ermöglichen. [B_T: Christa & Roland Koch]

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