3 Tage im Rock-Camp mit kirchlichem Segen – Dolce Vita & italienische Lebensfreude inklusive – Das erste Wochenende im September steht vor der Tür und für echte Liebhaber der anspruchsvollen Rockmusik in Mitteleuropa kann das nur eines bedeuten: es ist im Piemont wieder für das 2 Days Prog + 1 Festival üppig angerichtet!
Bis heute hatte Italiens führendes Live-Prog-Event am Festivalwochenende immerhin 139 verschiedene Gruppen auf der Hauptbühne zu Gast, sowie weitere 21 Bands im lokalen Club Auditorium. Das musikalische Menü ist auch diesmal wieder einmal hervorragend angerichtet, im Forum 19 Veruno die Vorspeisen (darüber berichtet Bodo), auf dem Rasenplatz des Sports in Revislate die Hauptspeisen und die Nachspeisen sind die vielen schönen Erlebnisse drum herum. Wir reisen wieder aus dem Drautal nähe Lienz an, beobachten die Woche vorher schon mal vorsichthalber regelmäßig das Wetter. Starke Unwetter in der Region der italienischen Seen. Das hatten wir genauso schon letztes Jahr bei der Anreise mit Starkregen und Matschwiese. Am Anreisetag soll es besser werden, dafür startet unsere mobile Wohnung nicht mehr. Nach Starthilfe geht es ab Richtung Camp an der Chiesa Di Santo Stefano. In Mailand sind mehrere Autobahnen komplett gesperrt, für Ortskundige kein Problem, für uns zwei Stunden Fahrtzeit obendrauf. Dafür nach kurzer Nacht und an fast dem gleichen Platz wie letztes Jahr, schönes Wetter und ein Gefühl wieder Zuhause zu sein. Auf dem Camp erleben wir natürlich wie das Fan-Leben über fünf Tage läuft. Auffällig, dass diesmal viele Besucher nur für den Haupt-Act des Tages; Pain Of Salvation, Big Big Train, Ozric Tentacles; anreisen und meist in derselben Nacht, trotz des guten Wetters, wieder verschwunden sind. Einige bauen sogar nur für eine Nacht ihr ganzes Equipment auf und kurz danach wieder ab. Das nenne ich brennen für die Lieblingsband. Donnerstagnacht sah alles noch unfertig und verlassen aus, das ändert sich aber am nächsten Morgen, Aktivität überall. Die Händler bauen ihre Waren auf, diesmal sind es einige mehr als 2022, keine Überraschung, denn 2 Days Prog + 1 ist inzwischen in ganz Europa eine der ersten Adressen. Dazu zählt auch das ungewöhnliche Premium Catering mit kulinarisch feinen Sachen. Hier wird vieles geboten was wir an der italienischen Gastronomie lieben. Allein das ist schon ein Anreiz hier mal seine Zeit für ein Festival-Wochenende zu verbringen. Weltklasse Künstler im Open-Air-Club mit erstklassiger Infrastruktur, dazu Legionen von lächelnden gutgelaunten Menschen. Was haben wir auch 2023 auch wieder für armselige Veranstaltungsorte besucht, aber das ist ein anderes Thema.
2 Days Prog + 1, Revislate – Hauptspeise Freitag
Bereits der Freitag verspricht einige sehr delikate Hauptspeisen. Schon beim Einspielen bin ich mehrmals vor der Bühne, habe es auch nicht weit, stehe ja in unmittelbarer Sichtweite. Die Sonne scheint gnadenlos auf die Künstler herab, da wird oft stark durchgeschnauft, der Schweiß rinnt in Strömen. Den Beginn macht La Cruna Del Lago aus der Toskana. Vier erfahrene Bühnen-Brüder haben beschlossen sich zusammenzutun und ein brandneues Projekt gegründet. Das italienische Quartett hatte bereits 2021 beim Trasimeno Prog Festival ihr Live-Debüt, April 2022 veröffentlichte die Band dann das Album Schiere Di Sudditi. Sie treten hier in Revislate mit zwei Gästen auf, den Schlagzeuger haben sie leider fast unsichtbar hinter einer Plexiglaswand versteckt. Die progressive Musik wurde erfrischend locker und rockig präsentiert, die Gesangsteile in Italienisch waren dazu passend. Es war ein kurzweiliger Auftritt und eine würdige Eröffnung der Prog-Festspiele am Lago Maggiore. Und nach kurzer Umbaupause geht es mit erfahrenen Musikern weiter. Das legendäre Kollektiv Abel Ganz aus Glasgow, Schottland, präsentiert ihre klassische Prog-Musik mit kleinen Brisen von Jazz & Fusion sowie Canterbury & Folk. Die ersten beiden Bands passen haargenau zusammen, sehr feinfühlige Auswahl des Veranstalter-Teams um Alberto Temporelli. Der zweite Teil des Abends ist für Gourmets der etwas härteren Fraktion. Über den Tag ist die Besucherzahl stetig angewachsen, das Gelände füllt sich mit Rockern und die Stimmung wird ausgelassener. Auf Startplatz drei bläst nun die Star-Band O.R.k. den Besuchern erst einmal mit einer Klangwelt voller kontrolliertem Chaos die Ohren frei. Das Quartett wurde von drei genialen Köpfen des internationalen Prog ins Leben gerufen: Pat Mastelotto (King Crimson, Tu-Ner), Carmelo Pipitone (Marta Sui Tubi, Dunk) und Colin Edwin (Porcupine Tree). Sänger Lorenzo Esposito Fornasari alias LEF war hier auf dem Campo Sportivo natürlich auch dabei, Mastelotto aber nicht, wurde aber durch eine außergewöhnliche Schlagzeugerin Michaela Naydenova (Nervosa) gleichwertig ersetzt. Sie spielen fast das komplette aktuelle Album Screamnasium und vier Titel vom Vorgänger Ramagehead (2019) perfekt und druckvoll. Die Schweden Pain Of Salvation braucht man nicht mehr explizit vorstellen, Vergleiche stelle ich wie immer nicht an. Diese Formation ist nach fast 40 Jahren schon länger verdient in der obersten Liga des progressiven Hardrock angekommen, füllen mit gleichbleibender Qualität Studio & Live die Lücke, die andere Genre-Bands hinterlassen haben. Frontmann Daniel Gildenlöw ist einer der besten Sänger in dieser harten Fraktion, hat Volumen, kann alle Nuancierungen, Charme sowie Charisma obendrauf und er ist eben eine echte Rampensau, auch an allen Saiten-Instrumenten. Die 12 Titel bestehen zu je einem Drittel von den letzten beiden Studio-Alben plus The Perfect Element: Part I (2000). Alles ist geschickt ineinander geschichtet und wirkt wie aus einem Guss. Das Publikum geht begeistert mit, belohnt die Akteure mit immer wieder aufbrandenden Applaus und erarbeiten sich damit eine üppige Zugabe.
2 Days Prog + 1, Revislate – Hauptspeise Samstag
Kaum sind die letzten Nachtschwärmer in ihren Schlafstätten verschwunden, herrscht mitten in der Nacht helle Aufregung im Camp. Zwei doppelstöckige Big Big Busse sind eingetroffen, versperren alle Zufahrten und lassen die ganze Nacht durchgängig ihre Motoren und Stromaggregate laufen. Muss sein, denn die Prog-Star-Kapelle aus Britannien ist eingetroffen. Aber schon mal vorausgeschickt, der Auftritt des britischen Kammer-Orchester Big Big Train war eher mittelmäßig, rockige Stimmung kam selten auf. Fantastisch gut fing der Samstag dafür schon wieder mit dem jungen Art-Rock-Trio Dim Gray aus Norwegens Hauptstadt an. Die drei Studienkollegen haben nun, nachdem sie nun in aller Munde sind, mit zwei zusätzlichen Musikern aufgestockt und hier im Quintett gleich mal ein rockig-melancholisches Ausrufezeichen mit Titeln aus ihren zwei hochgelobten Alben Flown und Firmament gesetzt. Sänger und Tastenmann Oskar Holldorff sehen wir später noch einmal mit Big Big Train. Und noch eine Schüppe drauflegen können District 97, schon im Herbst 2006 in Chicago gegründet, hat dieses ebenso junge, aber erfahrene, wie auch kraftstrotzendes Quintett inzwischen über ein Dutzend Alben eingespielt. Natürlich ist die talentierte, wilde, Frontsängerin immer Erwähnung wert, aber man wird damit nicht dem gesamten 5-teiligen Band-Kollektiv gerecht. Denn die vier US-Männer sorgen durch anspruchsvollen und abenteuerlichen Einsatz ihrer Instrumente für einen voluminösen Klangteppich auf dem sich die quirlige Leslie Hunt austoben und das für ihre akrobatischen Einlagen auf der Bühne nutzen kann. Eine ausgezeichnete Vorstellung und passgenaue Vorlage für die vier britischen Männer von Pure Reason Revolution. Inzwischen pausiert ja die charismatische Frontstimme Chloe Alper bei diesen Alternative-Proggern und die ebenso fragile Annicke Shireen hat erst einmal ihren Platz eingenommen. Ich bezweifle, dass alle vorgetragenen weiblichen Gesangsteile unverfremdet von der niederländischen Keyboarderin stammen, dafür ist Chloes Stimme zu speziell. Mit vier Titeln vom Debüt The Dark Third ist das alte Material nach wie vor Schwerpunkt und das wird besonders von den Fans gefeiert. Dennoch überzeugen die fünf Akteure auch bei den anderen Kompositionen, über das gesamte Konzert mit ihrer explosiven Melange aus Art & Ambient, Electronica, Rock verschiedenster Ausprägung. Pure bombastische Sound-Kulissen werden hier übermächtig vor die Bühne geworfen, da wackeln sogar die Stuhlreihen und Absperrungen. Nach stetig dynamisch wie auf einer Rampe ansteigend, ist der Vortrag des Kammer-Orchesters von Big Big Train natürlich ein kleiner Dämpfer. Elf großartige Musiker in zwei Reihen auf der Bühne, hinten die vierköpfige Bläser-Truppe und das Schlagzeug, vorne die Solisten und Sänger um Mitgründer Gregory Spawton, das sieht schon imposant aus. Auch am Klang und Programm gibt es echt nichts zu meckern. Mir war diese Vorstellung aber etwas zu steril und einstudiert, wenige echte signifikante Besonderheiten oder Überraschungen. Aber wie gesagt, das ist vielleicht etwas zu übertrieben und auch unfair nach dem 3-teiligen Rockgewitter davor. Leider vergleiche ich hier mit der Magie vom Night Of The Prog Loreley 2018, als uns Zeremonienmeister David Longdon verzaubert hat. Da hatte zwar auch alles eine Dramaturgie, aber ebenso viel Lebendigkeit und etwas mehr Esprit.
2 Days Prog + 1, Revislate – Hauptspeise Sonntag
Irgendwann sehr weit nach Mitternacht verschwinden die zwei Big Big Busse inklusive gewichtigen Inhalt Richtung schweizerischen Pratteln. Das kleine Camp atmet auf, es kehren wieder etwas mehr Ruhe und Normalität zurück. Auch die heutigen vier Hauptspeisen am Sonntag haben es in sich. Zu Beginn erst einmal hintereinander zwei Leckereien aus dem heimischen Italien. Es beginnt mit Il Segno Del Comando aus der Nachbarschaft Genua, wieder einmal eine Band aus dem schier unerschöpflichen Reservoir italienischer Prog-Perlen. Durch meine regelmäßigen Besuche beim 2 Days Prog + 1 Festival hat sich vor mir ein Teil der imposanten, facettenreichen hiesigen Prog-Szene ausgebreitet und sich mir dadurch auch die Vielfalt und Kreativität der Musik südlich der Alpen mehr erschlossen. Das auftretende Quintett musizierte bereits 1995 zusammen und spielt Dark-Prog-Titel aus der gesamten Karriere. Nicht nur die Italiener rufen Bravi sondern auch die vielen internationalen Gäste. Danach tritt für 2023 die letzte italienische Band Karmamoi auf dem Musik-Sportplatz an. 2008 von Schlagzeuger und Komponist Daniele Giovannoni gegründet, haben sie immerhin schon sechs gute Studio-Alben, eines davon in Italienisch, vorzuweisen. Sie sind inzwischen ein Geheimtipp in der europäischen Prog-Szene, haben eine Menge schwergewichtige Unterstützer. Das sympathische Quartett um Daniele, bestehend aus Alex Massari (Gitarren), Alessandro Cefalì (Bass), Valerio Sgargi (Vocals, Keys), hat sich bereits auf vielen internationalen Festivals bewährt und auch hier in der Heimat zündet das präsentierte Material sofort. Am traumhaften Zusammenspiel erkennt man die Qualität und Erfahrung sofort. Pause und harter Schnitt vor der zweiten Halbzeit. Unitopia: ein bezaubernder Ort an dem man in idealer Vollkommenheit zusammenlebt, insbesondere in Bezug auf Gesetze, Regierung, soziale Bedingungen; ein Traum ?? Für mich wird das mit jedem erlebten Tag immer abstrakter, dennoch habe ich weiterhin Hoffnung, Visionen, Ziele. Vielleicht war deshalb die Formation Unitopia für mich sofort ein starker Mitbewerber für die diesjährige Kammer-Musik-Krone. Wer bisher alles genau gelesen hat, kann sich denken wer von den beiden Orchestern hier im Piemont den Sieg errungen hat, natürlich die Uni-Welt-Truppe mit Wurzeln in Ozeanien. Umweltbewusstsein, globale Umwälzungen, aktuelles Leben und Strukturen sind das thematische Rahmenwerk für die Musik mit Elementen von World, Klassik, Jazz, Rock gewürzt mit Moderne & Groove. Und was die Vordenker Mark Trueack und Sean Timms (Keyboards) zusammen mit Multi-Instrumentalist Steve Unruh, Schlagzeuger Chester Thompson, Gitarrist John Greenwood, Basser Don Schiff abliefern ist absolut Sehens- und Hörenswert. Und das sind The Garden (2008) komplett und der Titel Tesla von Artificial (2010). Diese Sogwirkung hätte ich von einer anderen Big-Band erwartet, aber diesmal konnten es nur diese sechs Musiker von Unitopia aufbauen. Die Menschen vor der Bühne waren diszipliniert und gebannt wie bei einem klassischen Konzert in der Philharmonie. Der aufbrandende Applaus erst nach dem letzten Ton. Und dass danach ein Rhythmus-Monster den Tag abschließend sollte, war dann überraschend passend, die Vorarbeit dazu hatte Unitopia kollegial geleistet. Ich bin begeisterter Fan von den britischen Ozric Tentacles seit ihrer Anfangszeit, habe fast alles was dieses Musik-Kollektiv jemals veröffentlicht hat im Archiv. Leider hatte ich nie das Glück, diese Truppe mal Live zu erleben, diesmal hat es endlich geklappt. Schon beim Einspielen am Vormittag zog es mich an die Bühne, konnte ich mich von den druckvollen Qualitäten dieser Formation überzeugen. Gründer Ed Wynne wird in der Frontreihe von Ex-Frau Brandi Wynne am Bass (Nachfolgerin vom 1999 verstorbenen Bruder & Mitgründer Roly Wynne) und Sohn Silas Neptune Wynne am Tasten-Arsenal unterstützt. Dahinter schwerarbeitet seit 2022 in der Trommelburg Tim Wallander. Die Flötistin Saskia Maxwell (Ambient-Duo Silas & Saski) komplettiert die aktuelle Gruppierung, spielt oft mit Silas vierhändig dessen Synthesizer. Was mir besonders imponiert ist, das die Ozrics Material aus allen Phasen und 10 verschiedenen Alben, von Tantric Obstacles (1985 nur MC) bis Lotus Unfolding (2023) präsentieren und das homogen wie aus einem Guss. Die Zeit der Feierbiester ist angebrochen, der audiovisuelle Trip in der lauen Sommernacht hat Fahrt aufgenommen und besonders nachdem Ed dazu auffordert an die Bühne zu kommen, springen immer mehr auf den Party-Shuttle auf. Wie letztes Jahr bei Solstice, Gong und Tangerine Dream kollektives Zusammenleben. Wie 2022 bei vielen von mir erlebten Auftritte, erneut spektakuläre Zeitreisen in die 70er und 80er.
Was bleibt zu resümieren. Wieder einmal eines der besten, wenn nicht das beste Rock-Festival anspruchsvoller Rock-Musik in diesem Jahr. Der Veranstalter hat wieder alle Versprechen gehalten und in Sachen Programm, Technik, Camp, Versorgung die gesetzten Maßstäbe voll erfüllt. Die Gewinner waren für mich die Hauptspeisen O.R.k., Pain Of Salvation, District 97, Pure Reason Revolution, Unitopia, Ozric Tentacles. Aber insgesamt war das gesamte dreitägige Festival erneut eine Sensation, hier könnte man eigentlich alle 16 Formationen aufzählen. Ich freue mich jetzt schon wieder auf die preiswerte Doppel-DVD mit den begleitenden, permanenten Videomitschnitten auch hier wieder ein Alleinstellungsmerkmal, mit einem visuellen Potpourri von 2023. Mein Dank geht stellvertretend an alle Künstler, Besucher und Helfer und an das fantastische Veranstalter-Kollektiv. Hier können sich andere Veranstalter in Europa wieder ein Beispiel nehmen. [B_T: Roland Koch]
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